Articuli Reprobati – Wikipedia

Die articuli reprobati sind 14 Artikel des Sachsenspiegels, die durch die päpstliche Bulle Salvator Humani Generis verboten wurden.

Im Laufe der Forschungsgeschichte war lange unklar, wie es zu einer Verdammung einiger Artikel des Sachsenspiegels kam. So wurde zunächst über ein als Regest bekanntes Schreiben von Innozenz VI. an Karl IV. diskutiert, in dem der Papst bereits 1356 den gesamten Sachsenspiegel verbannen soll.[1] In älterer Literatur des 19. Jahrhunderts wurde dieser Brief dann immer noch als eine kirchliche Verdammung des Textes eingestuft.[2] Inzwischen ist jedoch die Verlässlichkeit der entsprechenden päpstlichen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1356 in Frage gestellt worden. Die Datierung dieses Schreibens in das Jahr 1356 wird insbesondere deshalb in Zweifel gezogen, weil sie von in den späteren Jahren folgenden Angriffen gegen den Sachsenspiegel, insbesondere von Johannes Klenkok, nicht erwähnt wurde. Das Schreiben wird erst Gregor XI. zugeschrieben und ins Jahr 1374 datiert. In diesem Jahr verbannte der Papst die vierzehn Artikel mit der Bulle Salvator Humani Generis. Während inzwischen die Authentizität der Bulle und die Autorenschaft Gregor XI. unumstritten ist, schrieb Johannes Gryphiander im 16. Jahrhundert die Bulle noch Gregor IX. zu, der bereits 1241 starb,[1] und im Laufe der Jahrhunderte bestritten einige Autoren, wie Johann Heinrich Summermann, die Authentizität des päpstlichen Schreibens.[3]

In vielen wissenschaftlichen Schriften wird der Dekadikon des Augustinermönchs Klenkok als Ursache gesehen für das Handeln von Papst Gregor XI.[4] Dem Mönch werden teilweise persönliche Motive unterstellt, so hatte ein Gericht eine Verfügung gegenüber einem Kloster 1343 für ungültig erklärt.[4] Zunächst war Klenkok in einer Schrift nur gegen 10 Artikel vorgegangen. Als Reaktion auf diese Schrift traf ihn Ablehnung und Verfolgung. Seine spätere Verurteilung von dann 21 Artikeln soll nach alter Literatur daran liegen, dass Klenkok durch den Widerspruch gereizt gewesen sein soll.[5] Diese verschiedenen Autorenschaften werden zum Teil dann auch mit einer angeblichen generellen Ablehnung des Sachsenspiegels durch Rom in Verbindung gebracht.[6] In der Bulle Salvator Humani Generis verbietet Gregor XI. dann 14 der 21 kritisierten Provisionen des Sachsenspiegels.[7]

In einigen späteren Handschriften fehlen die articuli reprobati.[8] An einigen Artikeln steht in den Handschriften daneben, dass dies ein articulus reprobatus sei.[9] In den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten der Veröffentlichung der Bulle gab es verschiedene kirchliche Rezeptionen. Aus dem Ermland ist eine Urkunde des Bischofs Heinrich III. von 1140 überliefert, in der er einen Vertrag schloss, die reprobierten Artikel aber aus dem anwendbaren Recht ausschloss.[10] So beauftragte der Bischof Wenzel von Breslau erst 1397 die Veröffentlichung der Bulle, in Westfalen waren die Schriften Klenkoks Ursache für einige Predigten. Der Bischof Michael von Riga verlangte Anfang des 16. Jahrhunderts die Streichung der articuli reprobati aus dem Stadtrecht Rigas. In der sächsischen Oberhofgerichtsordnung und in den statuta regni des polnischen König Alexander fehlen die articuli reprobati.[11]

Nicht alle der Artikel unterfielen der gleichen Rezeptionsgeschichte. Einige Artikel entfielen wohl in den späteren Rechtsbüchern auch aus Praktibilitätsgründen, einige hielten sich noch Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte als Rechtsinstitute in den Rechtsbüchern der deutschen Lande.[11] In einem Reichsgerichtsurteil (RGZ 137, 343) wird ein Artikel der articuli reprobati wieder angewandt.

Stelle des Sachsenspiegels Regelungsinhalt Gruppe (nach Kullmann)
Ldr. I 3, 3 Wirkung der Gesetzgebung des Papstes bzgl. des Landrechtes Kirchenpolitische Artikel
Ldr. III 57, 1 Die Exkommunikation des Kaisers Kirchenpolitische Artikel
Ldr. III 63, 2 Wirkungen des Kirchenbannes Kirchenpolitische Artikel
Ldr. I 52, 2 Gesundheitsprobe Privatrechtliche Artikel
Ldr. I 52, 1 Erbenlaub Privatrechtliche Artikel
Ldr. I 63, 3 gerichtlicher Zweikampf (Gottesurteil) Prozessrechtliche Artikel
Ldr. I 39 Ordale Prozessrechtliche Artikel
Ldr. I 37 1. Var. und 2. Var. (als zwei Stellen) Ehe mit einer entehrten Frau oder einer, die ihre Ehe gebrochen hatte (als Zwei Artikel gewertet) Privatrechtliche Artikel
Ldr. I 18, 2 germanisches Rechtsinstitut des Eides der Unschuld oder Reinigungseid Prozessrechtliche Artikel
Ldr. I 18, 3 Urteilsschelte Prozessrechtliche Artikel
Ldr. I, 64 Regelung zum Zweikampf nach Erschlagen eines Räubers/Diebes. Umgehen eines Kampfes bei Beibringen von Sieben Zeugen. Prozessrechtliche Artikel
Ldr. II 12, 10. Fragen der Urteilsfindung Prozessrechtliche Artikel
Ldr. I 6, 2 2. Satz Haftung des Erben für Schulden des Erblassers Privatrechtliche Artikel

Von Klenkok wurden in der Ursprungsversion des Dekadikons noch weitere Artikel verdammt, die die Bulle jedoch nicht verdammte, wie Ldr. I 17, 2 und I 18, 1, die ein weniger vorhandenes Erbrecht der Schwaben regelte, Ldr. I 25, 1 und Ldr. I 25, 3, welches das Erb- und Lehensrecht im Zusammenhang mit dem Eintritt ins Kloster regelten, und Ldr. III 2, der sich auf die Behandlung von Geistlichen bezog.

In der Rechtspraxis des Sachsenspiegels argumentierten Prozessparteien mit den reprobierten Artikeln um zu zeigen, dass der Sachsenspiegel in seiner Gesamtheit nicht anwendbar sei. Diese Argumentation wurde jedoch zurückgewiesen, denn nur spezifische Artikel seien verworfen worden.[12]

In der germanistischen Forschung des 19. Jahrhunderts wird die Wirkung der articuli reprobati als gering angesehen.[13] So wird geschrieben, dass die articuli reprobati zwar in einigen Schriften erwähnt worden seien, aber ohne spürbare Auswirkungen geblieben sind.[5] In der späteren Forschung wird dies differenzierter gesehen, so habe die Bedeutung der articuli reprobati von der Maßgabe der Landesfürsten abgehangen und wie diese mit ihnen umgingen. Lars Rentmeister sah in den articuli reprobati ein indirektes Zeichen des Konfliktes zwischen Kaisertum und Kirche, aber auch zwischen Kaiser und Landeskirchen.[11]

Eine wohl als sehr bedeutend anzusehende Rezeption der articuli reprobati ist, dass sie in dem in Osteuropa, insbesondere Preußen, geltenden Rechtsbuch, dem Alten Kulm, welches den Sachsenspiegel fast vollständig übernimmt, nicht enthalten sind.[14] In einer Handschrift aus Olmütz tauchen die articuli reprobati in einer Gesetzessammlung des römischen Rechtes nach den drei Büchern personae, res, actiones im Rahmen eines vierten Buches kirchenrechtlichen Inhaltes auf.[15]

Die articuli reprobati werden teilweise benutzt, um ein Werk datieren zu können. Insbesondere in Polen, wo die articuli reprobati rezipiert wurden, wird aus der Tatsache, ob diese in einer Handschrift des Sachsenspiegels auftauchen, geschlossen, wie alt die Handschrift sein könnte.[16]

Kullmann beschrieb die Argumentation Klenkoks als moderne Auffassung. Zwar habe ihr Streben nicht unmittelbaren Erfolg gehabt, doch sei der Kirche des Mittelalters zu verdanken, dass das heutige Recht die richterliche Beweiswürdigung kennt und Krankheit und Gebrechlichkeit nicht mehr zur Verfügungsbeschränkung führen.[10]

Einzelnachweise

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  1. a b Hiram Kümper, Sachsenrecht, S. 245.
  2. Friedrich Schuler-Libloy: Deutsche Rechtsgeschichte. Braumüller, 1868, S. 14.
  3. Hiram Kümper, Sachsenrecht, S. 246.
  4. a b Rolf Lieberwirth: Die Wirkungsgeschichte des Sachsenspiegels. In: Ruth Schmidt-Wiegand (Hrsg.): Sachsenspiegel: Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift. Kommentarband. Walter de Gruyter GmbH & Co KG, 2015, ISBN 978-3-05-006909-8, S. 76.
  5. a b Roderich Stintzing: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. R. Oldenbourg, 1880, S. 9–10.
  6. Johann Gottfried Grohmann: Neues historisch-biographisches Handwörterbuch oder kurzgefasste Geschichte aller Personen, welche sich ...: bis auf gegenwärtige Zeiten einen ausgezeichneten Namen machten ... Leipzig. F.G. Baumgärtner, 1808, S. 196.
  7. Hiram Kümper, Sachsenrecht, S. 243.
  8. Stephan Meder: Rechtsgeschichte: Eine Einführung. UTB, 2014, ISBN 978-3-8252-4269-5, S. 175.
  9. Theodor Gomperz: Platonische Aufsätze. In commission bei C. Gerold's Sohn, 1887, S. 337–338.
  10. a b Hans-Josef Kullmann: Klenkok und die 'Articuli Reprobati' des Sachsenspiegels. 1959, S. 21, 119–120.
  11. a b c Lars Rentmeister: Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche im späten Mittelalter am Beispiel der Diskussion um den Sachsenspiegel. Berlin 2015, S. 54, 295–296,297 ff.
  12. Marek Wejwoda: Spätmittelalterliche Jurisprudenz zwischen Rechtspraxis, Universität und kirchlicher Karriere: Der Leipziger Jurist und Naumburger Bischof Dietrich von Bocksdorf (ca. 1410-1466). BRILL, 2012, ISBN 978-90-04-18507-4, S. 321.
  13. Geschichte der Wissenschaften in Deutschland: Neuere Zeit. 1880, S. 9–10 (google.com [abgerufen am 3. Juni 2022]).
  14. Articuli Reprobati. In: Zeitschrift der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte. Band 3-4. H. Böhlau, 1864, S. 202 (google.com [abgerufen am 3. Juni 2022]).
  15. Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien: Anzeiger der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften: Philosophisch-Historische Classe. K. Gerold's Sohn, 1880, S. 63 (google.com [abgerufen am 4. Oktober 2022]).
  16. Beiträge zur Geschichte des Magdeburgerrechts. In: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Classe. Band 50. K. K. Hof- und Staatsdruckerei, 1865, S. 366.