Ethnizität – Wikipedia

Ethnizität (von altgriechisch ἔθνος ethnos, deutsch ‚[fremdes] Volk, Volk-‘) ist ein Fachbegriff aus der Ethnologie zur Einordnung kultureller Identitäten.[1] Nach Max Weber ist Ethnizität ein Konzept einer Gruppe von Menschen, die sich durch den subjektiven Glauben an eine gemeinsame Abstammung und Kultur konstituiert und so eine homogene[2] Gruppenidentität bildet.[3] Dabei werden gewisse kulturelle Elemente wie Sprache, Kleidung, Brauchtum und Religion als auch nach außen sichtbare Abgrenzungszeichen verwendet.[4]

Gegenüber früheren primordialen, essentialistischen Erklärungen, die Ethnizität in endogamen Gruppen homogener Kulturen fest und unveränderlich als von der Biologie und den jeweiligen geografischen Bedingungen vorgegeben sah, hat sich mittlerweile der konstruktivistische Ansatz, welcher der subjektiven Wahrnehmung der Akteure eine zentrale Rolle zumisst, weitgehend durchgesetzt. Er beschreibt die mehr oder weniger zielbewussten Handlungen von Einzelnen und Kollektiven und wird in den sozialwissenschaftlichen Theorien häufig als „soziale Konstruktion“ (Sozialkonstruktivismus) beziehungsweise als „Wahlentscheidung“ (Theorie der rationalen Entscheidung) betrachtet.

Zur Kategorisierung der Ethnizität sozialer Gebilde wird in Abgrenzung zum ethnischen Volksbegriff Ethnos auch der Begriff Demos als ein politischer und rechtlicher Begriff von Volk angewendet.[5] Vielfach wird Ethnizität fälschlicherweise mit Nationalität gleichgesetzt. Eine Einstellung, die sich vom Standpunkt der eigenen Kultur und der mit ihr verbundenen Wertmaßstäbe primär auf ihre Ethnizität bezieht, wird als Ethnozentrismus bezeichnet.

Theorien zur Ethnizität

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Reinhart Kößler und Tilman Schiel unterscheiden Ethnizität nach ihrer Dimension, ihrer Erscheinungsform und ihrer Funktion.

Dimension: horizontale Ethnizität

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In der horizontalen Ethnizität erscheint sie:

  • als Strategie für ideologische Begründung von Ressourcen, Ansprüchen und Rechten,
  • als soziale Schließung zur Begründung von Ausschluss und Zwangsrestriktionen. Dazu zählen die Staatsbürgerschaft, der Zugang zu einem Arbeitsplatz und andere Ordnungsdispositive,
  • als „kulturelle Kreativität“ mit Rückbezügen auf alte Traditionen und in Form der Abgrenzung vor einem „Modernisierungsschock“.

Dimension: vertikale Ethnisierung

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In der vertikalen Ethnisierung erscheint sie:

  • als „Great“ versus „little Traditions“ zur positiven Betonung des „Überschaubaren“ (lokal, regional) gegenüber dem „Nationalen und Großen“,
  • als Nationalismus versus Tribalismus. Hier stellen regionale „ethnische Kraftfelder“ (tribes) eine nationale Ordnung in Frage,
  • als Zentralismus versus Regionalismus. Hier agiert beispielsweise ein zentraler Staat gegen die Autonomie­bestrebungen einer Region.

Dimension in der Tiefe und Intensität

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In der Tiefe und Intensität erscheinen sie:

  • als ethnische Separation in Form von Ethnonationalismus. Die Argumentation mit der Ethnizität dient hier als Strategie zur Legitimation einer politischen Selbständigkeit und der Abspaltung.[6]
  • als „kultureller Reichtum“ zur Wahrung regionaler Besonderheiten innerhalb einer „nationalen Kultur“.

In der Wissenschaft wird auf die zunehmende Entkontextualisierung, Hybridisierung und Popularisierung von Fachbegriffen wie „Ethnizität“ im öffentlichen Sprachgebrauch hingewiesen. „Ethnizität“ beschreibt nämlich im eigentlichen Sinne nicht bestimmte Eigenschaften, sondern ein Verhältnis – es handelt sich hierbei also um einen relationalen und keinen substanzbezogenen Terminus.

Andre Gingrich stellt in diesem Zusammenhang in seinem Artikel Ethnizität für die Praxis[7] sieben Thesen auf:

  • Ethnizität bezeichnet das jeweilige Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Gruppen, unter denen die Auffassung vorherrscht, dass sie sich kulturell voneinander in wichtigen Fragen unterscheiden.
  • So wie jede Person einmal mehr und einmal weniger egoistisch ist und dabei unterschiedliche Glaubwürdigkeit aufweist, so tendieren auch ethnische Gruppen unter bestimmten Umständen zum Ethnozentrismus. Ethnozentrismus ist manchmal unvermeidlich, aber er ist selten richtig.
  • „Ethnisch“ ist keine sprachkosmetische Verkleidung für „rassisch“ oder „völkisch“. Ethnische Unterschiede zu verabsolutieren kann leicht zu Rassismus führen, ethnische Unterschiede zu ignorieren aber ebenso.
  • Ethnizität und Nation sind nicht identisch. Nationen sind politische Gemeinschaften, die dauerhaft im selben Staatsverband leben oder leben wollen. Ethnizität hingegen überschreitet oft nationale und staatliche Grenzen.
  • Ethnizität ist nicht identisch mit Kultur. Ethnizität als Beziehungsgeflecht aktualisiert bloß bestimmte Aspekte der beteiligten Kulturen in diesem Wechselverhältnis und kombiniert dies mit Außeneinwirkungen.
  • Ethnizität verändert sich im Laufe der Zeit immer wieder. So wie es jetzt ist, bleibt es nicht.
  • Ethnizität variiert je nach den Umständen. So wie es hier ist, so ist es nicht überall sonst.
  • Andre Gingrich: Ethnizität für die Praxis. In: Karl R. Wernhart/Werner Zips (Hrsg.): Ethnohistorie – Rekonstruktion und Kulturkritik. Eine Einführung. Wien: Promedia, 2001.
  • Detlev Claussen, Oskar Negt, Michael Werz (Hrsg.): Kritik des Ethnonationalismus. Hannoversche Schriften 2. Frankfurt a. M.: Verlag Neue Kritik, 2000.
  • Reinhard Kößler, Tilman Schiel: Nationalstaat und Ethnizität. Frankfurt a. M.: IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 1995.
  • Emerich K. Francis: Ethnos und Demos. Berlin 1965.
  • Wolfram Stender: Ethnische Erweckungen. Zum Funktionswandel von Ethnizität in modernen Gesellschaften – ein Literaturbericht. In: Mittelweg 36, 24. Juni 2000. PDF (Memento vom 30. Juni 2004 im Internet Archive).
  • Friedrich Heckmann (1991): Ethnos, Demos und Nation, oder: Woher stammt die Intoleranz des Nationalstaats gegenüber ethnischen Minderheiten? In: Uli Bielefeld (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der alten Welt?, Hamburg.
  • Friedrich Heckmann: Nationalstaat, multikulturelle Gesellschaft und ethnische Minderheitenpolitik.
  • M. Rainer Lepsius: „Ethnos“ und „Demos“. Zur Anwendung zweier Kategorien von Emerich Francis auf das nationale Selbstverständnis der Bundesrepublik und auf die Europäische Einigung. in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1986.
  • Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 1976.
Commons: Ethnizität – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Immanuel Wallerstein, Imanuel Geiss, Gero Fischer, Maria Wölflingseder (Hrsg.): Biologismus – Rassismus – Nationalismus. Rechte Ideologien im Vormarsch 1995.
  2. „Die ethnische Gruppe ist eine Gruppe von Menschen, die durch kulturelle Homogenität miteinander verbunden ist“. B. Berry: Race Relations. The Interaction of Racial and Ethnic Groups. Boston, 1951, S. 75.
  3. Bernhard Streck: Wörterbuch der Ethnologie. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2000, ISBN 3-87294-857-1, S. 53.
  4. Fredrik Barth: Ethnic groups and boundaries. The social organization of culture difference. Allen & Unwin, London, 1969, S. 12 ff.
  5. Emerich K. Francis: Ethnos und Demos. Berlin 1965. Vgl. auch Friedrich Heckmann, Ethnos, Demos und Nation, 1991 bzw. ders., Nationalstaat, multikulturelle Gesellschaft und ethnische Minderheitenpolitik, 2001 sowie Wolfram Stender, Ethnische Erweckungen. Zum Funktionswandel von Ethnizität in modernen Gesellschaften – ein Literaturbericht, in: Mittelweg 36, 24. Juni 2000. PDF (Memento vom 27. September 2007 im Internet Archive).
  6. Vgl. Detlev Claussen/Oskar Negt/Michael Werz (Hg.): Kritik des Ethnonationalismus (Hannoversche Schriften 2), Frankfurt am Main 2000.
  7. Andre Gingrich: Ethnizität für die Praxis. In: Karl R. Wernhart/Werner Zips (Hg.): Ethnohistorie – Rekonstruktion und Kulturkritik. Eine Einführung. Promedia, Wien 2001, S. 99–111.