Gesetzeslücke – Wikipedia

Der Begriff Gesetzeslücke (auch Rechtslücke, im Strafrecht, Strafbarkeitslücke, im Steuerrecht begegnet das Schlagwort Steuerschlupfloch) ist Bestandteil rechtspolitischer Diskussionen, ist politisches Schlagwort vornehmlich aber Bestandteil der juristischen Methodenlehre. In der Rechtswissenschaft beschreibt er eine Konstellation, in welcher der Gesetzgeber einen Fall nicht geregelt hat, den er erkennbar geregelt hätte, hätte er die Regelungsbedürftigkeit erkannt. Claus-Wilhelm Canaris unterscheidet die Gesetzeslücke dabei doppelt. Er sieht sie im allgemeinem Sprachgebrauch als „planwidrige Unvollständigkeit“ des positiven Rechts, andererseits als besondere juristische Aufgabe zur Füllung des Vakuums, und damit als Voraussetzung der Rechtsfindung außerhalb des Gesetzes, praeter legem (Ergänzung des Gesetzes). Gemessen am Leitbild der gesamten geltenden Rechtsordnung, der ratio legis, hat „jeder juristische Begriff, ebenso also der Lückenbegriff, der Anwendung des Rechts zu dienen“.[1]

Da der Gesetzgeber künftige Konfliktfälle aufgrund der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse und ihres beständigen Wandels nicht vorhersehen kann, muss er Gesetzeslücken in Kauf nehmen. Er hat dabei allerdings Grenzen zu ziehen. Einerseits muss er die Grenze zur nicht in Zweifel gezogenen Auslegungsmöglichkeit der bestehenden Gesetze berücksichtigen, gemeint ist die gleiche Behandlung rechtsähnlicher Tatbestände (secundum legem), andererseits darf er keine rechtsmissbräuchliche, mithin gesetzesfeindliche und deshalb unzulässige, Rechtsfindung dartun; eine zweifelhafte Auslegung wäre gesetzesverstößlich contra legem.[1]

Lücke und Analogie

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine Gesetzeslücke zeigt sich, wenn man den Regelungsbedarf dem bestehenden Gesetzesrecht gegenüberstellt.[2] Eine ausfüllungsbedürftige Gesetzeslücke besteht also dann, wenn ein Rechtsproblem im Gesetz nicht oder nicht so geregelt ist, wie man es bei richtiger Anwendung der Auslegungsgrundsätze der Methodenlehre erwarten würde.[1] Da die gesetzlichen Werte von Anordnungen regelhaft positiv formuliert sind, liegt die Abgrenzung zur Lücke vordergründig in der sprachlichen Auslegung im Wortsinn. Auch bietet sich allerdings die teleologische Auslegung an, die davon ausgeht, dass hinter einer Anordnung die Wertung des Gesetzes steht. Dieser Auslegungsform wird häufig sogar der Vorrang eingeräumt. Lücken können demnach dort identifiziert werden, wo eine gesetzliche Wertung nicht (zweifelsfrei) möglich ist.[3]

Soweit die Ausfüllung einer Gesetzeslücke an den Auslegungskriterien scheitert, weil sie ihnen nicht gerecht werden kann, kann letztlich die Rechtsfortbildung weiterhelfen. Diese wiederum hängt von zusätzlichen Voraussetzungen ab,[4] weshalb das Bestehen einer Lücke verifiziert werden muss. Eine Rechtsfindung praeter legem kennzeichnet sich einerseits durch die Befugnis des Richters, über die Anordnungen des positiven Rechts hinausgehen zu dürfen. Andererseits ist der Richter an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gebunden. Er findet die Grenzen dort, wo contra legem judiziert würde, er also gegen Anordnungen oder Wertungen des geltenden Rechts verstieße.[5]

Keine Lücken liegen vor, wenn das Gesetz selbst auf entsprechende Anwendungen von Normen verweist, es wird in diesem Zusammenhang von Verweisungsanalogien gesprochen. Wenn im Rücktrittsrecht § 347 BGB auf die §§ 987 ff. BGB zur Abfolge der Rückabwicklung verweist, liegt eine Rechtsfolgenverweisung kraft Gesetzes vor, nicht etwa eine Lücke. Selbiges gilt, wenn ein unbestimmte Rechtsbegriff wie „in ähnlichen Fällen“ verwendet wird.[6] Die Analogie ergänzt dann eine Lücke, die sich nicht aus der positiv-rechtlichen Regelung ergibt, sondern aus dem Gleichheitssatz.[7] Auch für Gewohnheitsrecht gilt, dass die Annahme von Lücken grundsätzlich auszuschließen ist.[8]

Die grammatisch-wörtliche und die teleologische Auslegung in Abgrenzung zum Lückenfall

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

a) Nach dem Maßstab der grammatischen, subjektiven oder objektiven Auslegung:

  • Regelungslücke: Eine Regelung im Ganzen, d. h. ein innerlich zusammengehörender Komplex von Einzelnormen ist unvollständig (z. B. Culpa in contrahendo (Verschulden vor Vertragsabschluss); Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter).
  • Rechts- oder Gebietslücke: Es fehlt eine Regelung für einen ganzen Lebensbereich, der nach den Grundsätzen der subjektiven oder objektiven Auslegung zu erwarten wäre. Beispiel: Nach Art. 117 GG trat am 31. März 1953 das Ehe- und Familienrecht, das dem Art. 3 Abs. 2 GG widersprach, außer Kraft, obwohl eine neue gesetzliche Regelung noch nicht vorhanden war. Diese Lücke wurde durch richterliche Rechtsneubildung ausgefüllt, bis 1957 das Gleichberechtigungsgesetz erging.

b) Nach dem Maßstab der subjektiv-teleologischen Auslegung:

  • Gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung: Dies ist eine Rechtsfortbildung, die den Zwecken des Gesetzgebers zuwiderläuft. Eine solche Rechtsfortbildung ist nur zulässig, wenn sie durch Grundrechte oder durch überpositives Recht (z. B. Menschenrechte) geboten ist.

c) Innerhalb der Gesetzeslücken kann unterschieden werden: Offene und verdeckte Gesetzeslücken:

  • Eine Gesetzeslücke ist offen, wenn das Gesetz für eine Fallgruppe keine Regel enthält, obwohl es nach den Maßstäben der subjektiven oder objektiven Auslegung eine Regel enthalten sollte (z. B. § 463 Satz 2 BGB).
  • Eine Gesetzeslücke ist verdeckt, wenn die Lücke in dem Fehlen einer Ausnahme von einer Regel besteht (z. B. § 400 BGB).

Bewusste und unbewusste Gesetzeslücken je nachdem,

  • ob der Gesetzgeber eine Rechtsfrage bewusst offengelassen hat, um sie der Rechtsprechung zur Klärung zu überlassen, oder
  • ob der Gesetzgeber die Rechtsfrage übersehen hat (z. B. Verschulden bei Vertragsabschluss).

Schließen der Lücken

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Kompetenz zur Schließung von Gesetzeslücken liegt in erster Linie bei der Legislative. Vielfach fallen Gesetzeslücken jedoch erst den Gerichten auf. Auch diese können Gesetzeslücken schließen,[9] wenn Erwägungen der Gerechtigkeit das erfordern und schwerer wiegen als Gründe der Rechtssicherheit und der Gewaltenteilung, die dafür sprechen, das förmliche Gesetz zu respektieren[10]. Auch die Rechtsprechung hat aber bei der Ausfüllung von Gesetzeslücken dem Willen des Gesetzgebers entgegenzukommen und deshalb so zu entscheiden, wie es dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers entspricht[11].

Die richterliche Lückenausfüllung hat in der Regel durch vergleichendes Denken zu geschehen, das heißt so, dass wesentlich Gleiches gleich, wesentlich Ungleiches ungleich behandelt wird: Erfasst also der Gesetzeswortlaut Fälle nicht, die den gesetzlich geregelten Fällen gleich zu behandeln wären, so erfordert das eine erweiternde Anwendung der gesetzlichen Regelung durch Analogie (Vergleichsbehandlung). Erfasst das Gesetz auch (ungleiche) Fälle, die es nach dem Gesetzeszweck gerechterweise nicht erfassen dürfte – fehlt also eine Ausnahmeregelung –, so ist auch diese „Lücke“ zu schließen.[12] Das kann auch dadurch geschehen, dass das Gesetz mit einer Einschränkung angewendet wird (teleologische Reduktion).[13]

Mitunter kann durch die Rechtsprechung eine Gesetzeslücke sogar gegen den eigentlichen Gesetzeswillen (contra legem) geschlossen werden. Zum Beispiel war entgegen dem Wortlaut des § 400 BGB „… diese Möglichkeit unter Beachtung aller Vorsicht, die eine solche abändernde, aber zweckgetreue Einschränkung einer Verbotsnorm erfordert, zu bejahen, weil sonst der vom Gesetz verfolgte Zweck, den Rentenberechtigten zu schützen, in sein Gegenteil verkehrt würde“.[14] In Fällen, in denen die Rechtssicherheit vorgeht, gilt dies jedoch nicht. So ist es verfassungsrechtlich unzulässig, den Anwendungsbereich einer Strafnorm über ihren eigentlichen Wortsinn zu Lasten des Täters auszudehnen (Verbot strafbegründender und strafschärfender Analogie; ungenau: Analogieverbot): Art. 103 Abs. 2 GG verbietet, Straftatbestände durch Analogie zu begründen oder zu verschärfen.[15] Insoweit ist jede tatbestandserweiternde Interpretation, die über den möglichen Wortsinn hinausgeht, unzulässig.[16]

Das Bestimmtheitsgebot verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen.[17] Das an den Gesetzgeber gerichtete Bestimmtheitsgebot korrespondiert nicht nur mit dem an die Rechtsprechung gerichteten Analogieverbot, sondern auch mit einem Rückwirkungsverbot: Ist eine Tat zum Tatzeitpunkt nicht ausdrücklich strafbar gewesen, so kann sie nicht bestraft werden.

Gleiches gilt, wenn der Gesetzgeber durch eine enumerative Aufzählung zu erkennen gegeben hat, dass er eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs auf ähnliche, nicht genannte Fälle nicht zulässt („enumeratio ergo limitatio“).

  • Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Auflage, 2010, Kap. VII
  • Karl Larenz, Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage, 1995, Kap. 5
  • Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, 2012, § 11
  • Eberhard Dorndorf: Grundriss der Methodenlehre. 2001
  • Jörg Lücke: Vorläufige Staatsakte: Auslegung, Rechtsfortbildung und Verfassung am Beispiel vorläufiger Gesetze, Urteile, Beschlüsse und Verwaltungsakte. 1991, ab S. 78
Wiktionary: Gesetzeslücke – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
  1. a b c Claus-Wilhelm Canaris: Die Feststellung von Lücken im Gesetz. Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, in: Schriften zur Rechtstheorie, Heft 3, 2. Auflage Berlin 1983. §§ 1–5 und §§ 6–10.
  2. Vgl. Hans-Joachim Koch, Helmut Rüßmann: Juristische Begründungslehre. Eine Einführung in die Grundprobleme der Rechtswissenschaft (= Schriftenreihe der Juristischen Schulung. Heft 22). Beck, München 1982, ISBN 3-406-03452-7.
  3. Vgl. Walter Sax: Das strafrechtliche "Analogieverbot": Eine methodologische Untersuchung über die Grenze der Auslegung im geltenden deutschen Strafrecht. Vandenhoeck & Ruprecht, Heidelberg 1953 (Habilitationsschrift). S. 173 ff.
  4. Vgl. zum Themenkomplex: Bernd Rüthers: Rechtstheorie. 2005, Rn. 832 ff.
  5. Claus-Wilhelm Canaris: Die Feststellung von Lücken im Gesetz. Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, in: Schriften zur Rechtstheorie, Heft 3, 2. Auflage Berlin 1983. § 21.
  6. Claus-Wilhelm Canaris: Die Feststellung von Lücken im Gesetz. Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, in: Schriften zur Rechtstheorie, Heft 3, 2. Auflage Berlin 1983. § 11–12.
  7. Ernst Rudolf Bierling: Juristische Prinzipienlehre, Band IV. S. 382 ff., 1894 bis 1917; Neudruck 1961. S. 402.
  8. Oscar Adolf Germann: Präjudizielle Tragweite S. 316 ff. und Präjudizien, S. 43 ff.
  9. BVerfGE 37, 67, 81
  10. Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., § 11 I c
  11. Annette Guckelberger: Die Verjährung im öffentlichen Recht. 2004, ISBN 3-16-148374-X. S. 311.
  12. Reinhold Zippelius: Das Wesen des Rechts. 6. Auflage 2012, Kap. 8 b.
  13. Karl Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 1992, S. 350, 379.
  14. BGHZ 4, 153 und 59, 115.
  15. BVerfGE 92, 1 [13 ff.]
  16. BVerfG, Beschluss vom 21. November 2002 - 2 BvR 2202/01.
  17. BVerfGE 71, 108, 114 f.