Industrialisierung – Wikipedia

St.-Antony-Hütte von 1758, Abbildung von 1835
Die Harkortsche Fabrik auf Burg Wetter von Alfred Rethel, ca. 1834
Zeche Mittelfeld, Ilmenau (Zeichnung um 1860)
Fourastié – Entwicklung der drei Wirtschaftssektoren für Frankreich
Barmen um 1870 vom Ehrenberg aus gesehen, Gemälde von August von Wille
Zeche Sterkrade, Foto, ca. 1910–1913

Industrialisierung ist innerhalb eines Staates ein Prozess, während dessen sich ein Agrarstaat zu einem Industriestaat entwickelt. Ein Gegenbegriff ist die Deindustrialisierung.

Allgemeines

Weltweit gab es zunächst Agrarstaaten, in denen die Arbeit in der Landwirtschaft und damit die Produktion von Agrarprodukten natürlichen, witterungsbedingten Einflüssen unmittelbar unterliegt. Das führt zu schwankenden Ernteerträgen und auch zu Missernten durch Dürre, Schädlinge, Überschwemmungen etc. Staatsziel des Agrarstaates ist vor allem die Subsistenzwirtschaft zur Selbstversorgung mit eigenerzeugten Agrarprodukten, idealerweise mit einem Selbstversorgungsgrad von 100 %. Industrialisierung bezeichnet technisch-wirtschaftliche Prozesse des Übergangs von agrarischen zu industriellen Produktionsweisen,[1] in denen sich die maschinelle Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen durchsetzt.[2]

Der Unterscheidung zwischen Industrie- und Agrarstaaten liegt der jeweils herrschende Wirtschaftssektor (Industrieproduktion oder Agrarproduktion) und deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) oder der Anteil der Erwerbstätigen jener Sektoren[3] an den gesamten Erwerbstätigen zugrunde. Typische Agrarstaaten sind alle Entwicklungs- und die meisten Schwellenländer. Sie besitzen das größte Marktpotenzial für ihre Industrialisierung.

Volkswirtschaftliche Ursachen

Jean Fourastié ging 1949 in seiner Drei-Sektoren-Hypothese von einem Staatsmodell aus, das drei Sektoren umfasste, nämlich den primären Sektor (Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft; im weiteren Sinne auch der Bergbau), sekundären Sektor (Baugewerbe, Energie- und Wasserversorgung, Handwerk oder verarbeitendes Gewerbe) und den tertiären Sektor (Dienstleistungen im Finanzwesen, Forschung und Entwicklung, Gastronomie, Handel, Immobilienwirtschaft, Verkehr und Nachrichtenübermittlung, öffentliche Verwaltung usw.).

Mit seinem Drei-Sektoren- bzw. Drei-Phasen-Modell versuchte Fourastié die idealtypische Entwicklung einer Volkswirtschaft bis hin zur Dienstleistungsgesellschaft zu erklären (sektoraler Strukturwandel). Ausgehend vom Agrarmarkt wachse zunächst die Industrieproduktion, die zunehmend Landtechnik herstelle und technischem Fortschritt unterliege, so dass Arbeitsplätze im Primärsektor verschwänden und im Sekundärsektor benötigt würden.[4] Eine Marktsättigung tritt am schnellsten ein bei Produkten des primären Sektors, dann bei denen des sekundären Sektors, während die Nachfrage nach denen des tertiären Sektors unbegrenzt sei und bleibe.[5] Die zunehmende Automatisierung und Mechanisierung in diesen Sektoren führe zu mehr Freizeit für die Arbeitskräfte, was die Dienstleistungen des tertiären Sektors stärke.[6]

Geschichte

Industrialisierung bedeutet auch die Mechanisierung traditionell manueller Wirtschaftssektoren wie der Agrikultur.

Im Mittelalter arbeiteten weltweit etwa 70 % der Beschäftigten im primären, 20 % im sekundären und lediglich 10 % im tertiären Sektor – die typische Struktur eines Agrarstaates. Als erster Industriestaat weltweit gilt England;[7] es hatte seinen Aufstieg der Kohle und dem Eisen zu verdanken. Ab 1765 trat dort ein Umschwung ein, der sich durch sinkende Getreideexporte ankündigte, die auch auf das Wachstum der Industrie und des Gewerbes zurückzuführen waren.[8] Schrittmachertechnologien waren die Erfindung der Dampfmaschine (1712 durch Thomas Newcomen, 1769 von James Watt entscheidend weiterentwickelt), der Spinnmaschine (Spinning Jenny), des mechanischen Webstuhls (1785 durch Edmond Cartwright), der Werkzeugmaschine und des Puddelverfahrens bei der Eisengewinnung. Die Erfindung der Dampflokomotive (1804 durch Richard Trevithick) und der ersten öffentlichen Eisenbahnen gelten als das Ende der (ersten) Industriellen Revolution in England. Es stellte die Weichen für einen bürgerlichen Industriestaat, den Arnold Toynbee 1882 als industrielle Revolution (englisch industrial revolution) bezeichnete.[9] Für Fourastié begann hier die Übergangsperiode, als etwa 50 % der Beschäftigten im sekundären Sektor arbeiteten (zu Lasten des primären Sektors mit nur noch 20 %); 30 % arbeiteten nun im tertiären Sektor.

Nach dem Ende des Wiener Kongresses im Juni 1815 setzte die industrielle Revolution in Deutschland mit der Frühindustrialisierung ein. Basis dieser Entwicklung war zumeist der Aufbau einer Textilindustrie wie man es beispielhaft am Aufstieg der frühen industriellen Zentren im Tal der Wupper (Barmen und Elberfeld) und im Königreich Sachsen (Chemnitz wurde sächsisches Manchester genannt) beobachten konnte. Sichtbar wurde die Frühindustrialisierung unter anderem durch die Gründung der „Preußisch-Rheinischen Dampfschifffahrtsgesellschaft“ (Vorläuferin der Köln-Düsseldorfer Deutsche Rheinschiffahrt) im Oktober 1825.[10] Im Juni 1837 folgte die Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft, im Oktober 1843 die Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft. Hiervon profitierten der Schiff- und Eisenbahnbau. An der Spitze des Eisenbahnbaus stand die Firma Borsig, die 1841 ihre erste und 1858 bereits die tausendste Lokomotive herstellte und mit 1100 Beschäftigten zur drittgrößten Lokomotivfabrik der Welt aufstieg (Hochindustrialisierung in Deutschland).

Die Industrialisierung Frankreichs nahm im Zeitraum zwischen 1830 und 1860 an Fahrt zu; es kam zu einem rasanten Anstieg der industriellen Produktion.

Die industrielle Revolution in den USA setzte vergleichsweise spät ein, seit 1850 zügig[11] und nach dem Ende des Sezessionskrieges (1861–1865) deutlich erkennbar.

Fourastiés Hypothese der „tertiären Zivilisation“ aus dem Jahre 1949 sah künftig 80 % der Beschäftigten im tertiären Sektor, die Industrie und der Agrarsektor würden auf jeweils 10 % sinken.[12] Schon früh hat sich während der Industrialisierung eine Industriekritik geäußert, die später in eine ökologische Kritik überging.

Statistiken

Die folgenden Statistiken sind in die drei klassischen Sektoren aufgeteilt, gemessen am Anteil des jeweiligen Sektors am BIP.[13]

Afrika

Bei den typischen Agrarstaaten Afrikas ist stets der tertiäre Sektor größer als der sekundäre Sektor, wie die nachstehende Auswahl zeigt:

Land Landwirtschaft
in % des BIP *)
Industrie
in % des BIP *)
Dienstleistungen
in % des BIP *)
Burundi Burundi 39,5 16,4 44,2
Guinea-Bissau Guinea-Bissau 50,0 13,1 36,9
Komoren Komoren 47,7 11,8 40,5
Mali Mali 41,8 18,1 40,5
Niger Niger 41,6 19,5 38,7
Sierra Leone Sierra Leone 60,7 6,5 32,8
Somalia Somalia 60,2 7,4 32,5
Sudan Sudan 39,6 2,6 57,8
Tschad Tschad 52,3 14,7 33,1
Zentralafrikanische Republik Zentralafrikanische Republik 43,2 16,0 40,8
  • (*) Anmerkung: Rundungsdifferenzen vorhanden.

Auf den ersten zehn Plätzen weltweiter Agrarstaaten befinden sich ausschließlich Staaten aus Afrika. Auch auf den weiteren Plätzen dominieren afrikanische Staaten, erst Tadschikistan folgt auf Rang 20 mit 28,6 % als erster nicht-afrikanischer Staat. Den höchsten Anteil der Agrarproduktion am BIP weist Sierra Leone (60,7 %) auf, gefolgt von Somalia (60,2 %), Tschad (52,3 %) und Guinea-Bissau (50,0 %). In allen drei Staaten ist der Dienstleistungssektor stärker als die Industrie. Bereits der Sudan und Burundi haben den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft vollzogen.

Lateinamerika

In Lateinamerika ist die Industrialisierung weitgehend abgeschlossen:

Land Landwirtschaft
in % des BIP *)
Industrie
in % des BIP *)
Dienstleistungen
in % des BIP *)
Argentinien Argentinien 10,8 28,1 61,1
Brasilien Brasilien 6,6 20,7 72,7
Chile Chile 4,2 32,8 63,0
Kolumbien Kolumbien 7,2 32,8 60,1
Mexiko Mexiko 3,6 31,9 64,5
Peru Peru 7,6 32,7 59,9
Uruguay Uruguay 6,2 24,1 69,7
Venezuela Venezuela 4,7 40,4 54,9
  • (*) Anmerkung: Rundungsdifferenzen vorhanden

Der Dienstleistungssektor dominiert in allen gezeigten Staaten Lateinamerikas und ist bedeutender als die Industrie. Die Landwirtschaft ist nahezu bedeutungslos.

Asien

Asien zeigt ein sehr differenziertes Bild:

Land Landwirtschaft
in % des BIP *)
Industrie
in % des BIP *)
Dienstleistungen
in % des BIP *)
China Volksrepublik Volksrepublik China 7,9 40,5 51,6
Hongkong Hongkong 0,1 7,6 92,3
Indien Indien 15,4 23,0 61,5
Indonesien Indonesien 13,7 41,0 45,4
Korea Nord Nordkorea 22,5 47,6 29,9
Korea Sud Südkorea 2,2 39,3 58,3
Malaysia Malaysia 8,8 37,6 53,3
Philippinen Philippinen 9,6 30,6 59,8
Singapur Singapur 0,0 24,8 75,2
Vietnam Vietnam 15,3 33,3 51,3
  • (*) Anmerkung: Rundungsdifferenzen vorhanden

In allen Ländern außer Nordkorea ist der Dienstleistungsbereich der größte Sektor.

Wirtschaftliche Aspekte

Das Pro-Kopf-Einkommen ist in Industriestaaten höher als in reinen Agrarstaaten, weil das Preisniveau von Industrieprodukten höher und die Wertschöpfungskette umfangreicher als bei Agrarprodukten sind. So betrug das Pro-Kopf-Einkommen vom Agrarstaat Burundi im Jahre 2017 knapp 700 US $, in Großbritannien dagegen 44.300 US $.[14] Um das Einkommen der Bevölkerung zu verbessern, ist eine Industrialisierung in Agrarstaaten attraktiv. Die Industrialisierungsphase ist gekennzeichnet durch industriellen Strukturwandel, bei dem Arbeitsplätze in der Landwirtschaft wegfallen und offene Stellen in der Industrie entstehen. Dieser Vorgang führt zu sektoraler Arbeitslosigkeit (Unterbeschäftigung) in der Landwirtschaft und Überbeschäftigung in der Industrie, bis die Anpassungsprozesse abgeschlossen sind.

Folgen

Als Auswirkungen der Industrialisierung folgende Auswirkungen werden die Urbanisierung, der Wechsel von Selbstversorgungs- (Subsistenzwirtschaft) zur Fremdversorgungsgesellschaft, Geburtenrückgang, Prosperität (in den Industrienationen), aber auch die zunehmende Demokratisierung, die auf den wachsenden Wohlstand angewiesen war, genannt.[15] Es folgten eine zunehmende Umweltverschmutzung sowie insbesondere die globale Erwärmung.

Siehe auch

Literatur

Wiktionary: Industrialisierung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie (= Kröners Taschenausgabe, Band 410). 4., überarbeitete und ergänzte Auflage. Kröner, Stuttgart 1994, ISBN 3-520-41004-4, S. 260.
  2. Flurin Condrau: Die Industrialisierung in Deutschland. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, S. 5.
  3. Ute Arentzen, Eggert Winter (Hrsg.): Gabler Wirtschafts-Lexikon. Band 3, 1997, Sp. 1855
  4. Jean Fourastié: Le Grand Espoir du XXe siècle. Progrès technique, progrès économique, progrès social. 1949, S. 64 ff.
  5. Jean Fourastié: Le Grand Espoir du XXe siècle. Progrès technique, progrès économique, progrès social, 1949, S. 86 ff.
  6. Beat Hotz-Hart, Patrick Dümmler, Daniel Schmuki: Volkswirtschaft der Schweiz: Aufbruch ins 21. Jahrhundert. 2006, S. 381
  7. Hubert Kiesewetter: Das einzigartige Europa. 1996, S. 173
  8. Felix Salomon: William Pitt der Jüngere. Band 1. 1906, S. 396 f.
  9. Hans-Dieter Gelfert: Kleine Geschichte der englischen Literatur. 2005, S. 151
  10. Gabriele Oepen-Domschky: Kölner Wirtschaftsbürger im deutschen Kaiserreich. 2003, S. 150.
  11. Peter Lösche (Hrsg.): Länderbericht USA, 2004, S. 81 f.
  12. Jean Fourastié: Le Grand Espoir du XXe siècle. Progrès technique, progrès économique, progrès social. 1949, S. 126
  13. Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach Sektoren. In: Lexas Länderdaten. 28. November 2018, abgerufen am 10. Oktober 2019. Dort zitiert aus Field Listing – GDP, composition, by sector of origin. In: The World Factbook. CIA, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 12. November 2020; abgerufen am 10. Oktober 2019 (englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.cia.gov
  14. Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf. In: Lexas Länderdaten. 28. November 2018, abgerufen am 10. Oktober 2019. Dort zitiert aus Field Listing: GDP - composition, by sector of origin. In: The World Factbook. CIA, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 12. November 2020; abgerufen am 10. Oktober 2019 (englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.cia.gov
  15. Zum Zusammenhang von Demokratisierung und Industrialisierung: Hedwig Richter: Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert. Hamburger Edition, 2017, S. 94–111