Isolationshaft – Wikipedia
Die Isolationshaft (Isolierungshaft) ist eine Form der Freiheitsentziehung, bei der einem bereits Inhaftierten innerhalb eines Gefängnisses oder einer ähnlichen Einrichtung Kontakt zu anderen Mitgefangenen, zur Außenwelt, meistens auch zu Beschäftigungsformen und Objekten für die individuelle Haftraumausstattung verweigert wird.
Die Isolationshaft ist wegen ihrer Auswirkungen auf den Häftling umstritten und wird von Kritikern auch als Vernichtungshaft und als Form der Folter betrachtet.
Zu unterscheiden ist die Isolationshaft von der Einzelhaft, die aus Sicherheits-, Ordnungs- oder disziplinarrechtlichen Gründen über einen Strafgefangenen verhängt werden kann.
Auswirkungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die akuten und langfristigen, zum Teil chronischen Folgen von Isolationshaft sind je nach Länge, Art und Ausmaß sowie der psychischen Konstitution des Gefangenen unterschiedlich. In Untersuchungen von Häftlingen vor, während und nach außerordentlich langer Isolationshaft konnten u. a. folgende Auswirkungen als „klassische Erscheinungen der Isolationshaft im Sinne der sensorischen Deprivation und sozialer Isolation“ (Stöwsand in: Klusmeyer, 1985: 46) dokumentiert werden:
- erhebliche Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des vegetativen Nervensystems
- erhebliche Störungen im Hormonhaushalt
- Beeinträchtigung von Organfunktionen
- Ausbleiben der Menstruation bei Frauen ohne physiologisch-organische, alters- oder schwangerschaftsbedingte Ursache (sekundäre Amenorrhoe)
- verstärktes Gefühl, essen zu müssen: Zynorexie/Heißhunger, Hyperorexie, Fresssucht
- im Gegensatz dazu Verringerung oder Ausbleiben des Durstgefühls
- starke Hitzewallungen und/oder Kältegefühle, die sich nicht auf eine entsprechende Veränderung der Umgebungstemperatur oder auf eine Erkrankung (Fieber, Schüttelfrost o. Ä.) zurückführen lassen
- erhebliche Beeinträchtigung der Wahrnehmung und der kognitiven Leistungsfähigkeit (was insbesondere im Hinblick auf Gerichtsverfahren/Strafverteidigung Probleme schafft)
- starke Störung der Verarbeitung von Wahrnehmungen
- starke Störungen des Körpergefühls
- starke allgemeine Konzentrationsschwierigkeiten
- starke Schwierigkeiten bis hin zum Unvermögen, zu lesen bzw. das Gelesene gedanklich zu erfassen, nachzuvollziehen und in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen
- starke Schwierigkeiten bis hin zum Unvermögen, zu schreiben bzw. Gedanken schriftlich zu verarbeiten (Agraphie/Dysgraphie)
- starke Artikulations-/Verbalisierungsschwierigkeiten, die sich besonders in den Bereichen Syntax, Grammatik und Wortwahl zeigen und bis hin zu Aphasie, Aphrasie und Agnosie reichen können
- starke Schwierigkeit oder Unvermögen, Gesprächen zu folgen (nachgewiesenermaßen aufgrund einer Verlangsamung der Funktion des primären akustischen Kortex der Schläfenlappenanteile aufgrund von Reizmangel)
- Weitere Beeinträchtigungen
- Führen von Selbstgesprächen zur Kompensation der akustischen und sozialen Reizarmut
- deutlicher Verlust an Gefühlsintensität (z. B. gegenüber Angehörigen und Freunden)
- situativ euphorische Gefühle, die später in eine depressive Stimmungslage umschlagen
- Gesundheitliche Langzeitfolgen
- soziale Kontaktstörungen bis hin zur Unfähigkeit, emotional enge und langfristige partnerschaftliche Beziehungen einzugehen
- Depressionen
- Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls
- Wiederkehren der Haftsituation in Träumen
- behandlungsbedürftige Störungen des Blutdrucks
- behandlungsbedürftige Hauterkrankungen
- Nichtwiedererlangen von insbesondere kognitiven Fähigkeiten (z. B. im Bereich der Mathematik), die vor der Isolationshaft beherrscht wurden
Insbesondere die Langzeitfolgen von Isolationshaft zeigen diverse Überschneidungspunkte mit den Symptomen des sogenannten Überlebenden-Syndroms, das bei vielen ehemaligen Gefangenen, die in Konzentrationslagern inhaftiert waren, beobachtet werden kann. In den Vereinigten Staaten ist das SHU-Syndrom bekannt, das bei Gefangenen, die in den Isolationsabteilungen (Secure Housing Units) untergebracht waren, auftritt und auffallende Ähnlichkeiten mit dem posttraumatischen Stresssyndrom aufweist.
Therapie
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Behandlung von Menschen, die an Folgen einer zu langen Haft unter Isolationsbedingungen leiden, ist bei körperlichen Symptomen (sofern sie nicht in erster Linie in einer Psychosomatik begründet sind) teilweise durch Medikamente möglich. Psychische und psychosomatische Folgen bedürfen einer Psychotherapie bei einem auf die Behandlung psychisch traumatisierter Menschen spezialisierten Therapeuten.
Geschichte, Aufklärung und Widerstand
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Obgleich Isolation und Deprivation schon seit Jahrhunderten zu Bestrafungszwecken eingesetzt werden, wurde die Isolationshaft erst Anfang des 19. Jahrhunderts, etwa um 1821, als eine Form der Bestrafung innerhalb von Gefängnissystemen im US-Bundesstaat Pennsylvania eingeführt und seitdem ständig neu erforscht und fortentwickelt. Die Gefangenen durften damals nicht arbeiten und als einzigen Besuch einen Geistlichen empfangen. Das System wurde zu dieser Zeit noch Bußhaft genannt.
Freidenker und Quäker setzten sich damals für das Bußhaus als vermeintlich humane Alternative zur Todesstrafe, Verstümmelung und Körperstrafe ein.
Schon 1842 protestierte der Schriftsteller Charles Dickens gegen die Isolationshaft und bezeichnete sie, da sie körperlich keine deutlich sichtbaren Spuren hinterlässt, als Weiße Folter und als grundsätzlich schlimmer als jegliche in erster Linie physische Folter.
Fast fünf Jahre lang – von 1894 bis 1899 – erlitt der zu Unrecht wegen Landesverrat verurteilte und auf eine Insel verbannte französische Offizier Alfred Dreyfus – siehe Dreyfus-Affäre – Isolationshaft.[1] Er konnte nach dieser Zeit zunächst kaum sprechen.
Eine eindrucksvolle literarische Darstellung von Isolationshaft und ihrer Auswirkungen findet sich in der Schachnovelle[2] von Stefan Zweig am Beispiel eines Gestapo-Häftlings.
Bereits seit 1983 ist in den USA der Gefängnistyp des Supermax in Anwendung. Dieser sieht die Verwahrung der Gefangenen in vollkommener Isolationshaft 23 Stunden am Tag vor – zeitweise auch bei ständiger Beleuchtung. In einigen US-amerikanischen Haftanstalten existieren einzelne Abteilungen, die einen Supermax-Charakter aufweisen. Diese werden in der Regel als Secure Housing Units (SHU) bezeichnet. Isolationshaft gab es unter anderem auch im nordirischen Bürgerkrieg gegen katholische Aktivisten in so genannten H-Blocks.
In der Türkei kämpfen seit Jahren Gefangene und deren Angehörige gegen die Legalisierung der Isolationshaft durch die Einführung so genannter Typ-F-Gefängnisse, die die in Deutschland entwickelten Normen für Isolation von Gefangenen übernehmen.
In Lateinamerika und Spanien ist Isolationshaft primär unter dem Begriff Incomunicado (dt.: Kontaktsperre) bekannt.
In Belarus wird Isolationshaft eingesetzt[3]; es gibt sogenannte Isolationszentren. Das bekannteste unter ihnen ist Okrestino, welches international kritisiert wird.
Situation in Deutschland
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In Deutschland ist die Isolationshaft nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt, sondern nur die klar eingegrenzte Einzelhaft (siehe u. a. § 88 Abs. 2 Nr. 3, § 89 StVollzG).[4]
In Deutschland wurde der Begriff „Isolationshaft“ teilweise mit den Haftbedingungen von Mitgliedern der Rote Armee Fraktion in den 1970er Jahren u. a. in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart in Verbindung gebracht.
Bis heute wird in einzelnen Fällen die Isolationshaft über Jahre aufrechterhalten. Bekannt ist etwa der Fall eines Inhaftierten in der JVA Bruchsal, der zwischen 1996 und 2006 23 Stunden am Tag isoliert war. In der JVA Celle ist ein Fall dokumentiert, bei dem ein Inhaftierter über 15 Jahre von anderen Häftlingen isoliert war.[5] Dem Häftling wurde schließlich seine Ungefährlichkeit attestiert und er kam im November 2011 nach 16 Jahren aus dem Gefängnis.
Für Häftlinge, die wegen terroristischer Straftaten inhaftiert sind, erlaubt das deutsche Kontaktsperregesetz eine Isolation in Form einer Kontaktsperre. Es wurde vom Bundesverfassungsgericht 1978 einstimmig für verfassungskonform befunden.
Situation in der Türkei
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In der Türkei darf die Polizei oder Gendarmerie einen Gefangenen verhören, ohne dass er Kontaktmöglichkeit zur Außenwelt hat.
Seit dem 2. Juli 2012 sind im Artikel 10 des Gesetzes 3713 (Gesetz zur Bekämpfung von Terrorismus, kurz: Anti-Terror-Gesetz, ATG) Regeln und Ausnahmen beschrieben. Hier bestimmt Absatz ç, dass bei Straftaten, die unter dieses Gesetz fallen, die maximale Dauer der Polizeihaft 48 Stunden beträgt. Absatz e bestimmt, dass diese Verdächtigen in den ersten 24 Stunden kein Recht auf anwaltlichen Beistand haben.[6]
Rechtliche Bewertung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Isolationshaft als solche und damit auch ihre Rahmenbedingungen sind gesetzlich in der Regel nicht festgeschrieben. Die Unterbringung von Gefangenen unter Isolationsbedingungen wird international von Menschenrechtsorganisationen geächtet und als Foltermethode bezeichnet, vermutlich jedoch weltweit im offiziellen und inoffiziellen Justizvollzug ohne Rechtsgrundlage eingesetzt.
Siehe auch
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- U. Ahrens (Hrsg.): Machen Sie sofort die Schranktür zu! Zweiunddreißig Zeichnungen und eine Plastik zur Isolationshaft. Gezeichnet und modelliert nach Schilderungen ehemaliger Isolationshäftlinge. Berlin 1986.
- Amnesty Internationals Arbeit zu den Haftbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland für Personen, die politisch motivierter Verbrechen verdächtigt werden oder wegen solcher Verbrechen verurteilt sind: Isolation und Isolationshaft. amnesty international publications, Bonn 1980.
- P. H. Bakker Schut (Hrsg.): Todesschüsse – Isolationshaft – Eingriffe ins Verteidigungsrecht. Berlin 1995.
- A. Birck, C. Pross, J. Lansen (Hrsg.): Das Unsagbare – Die Arbeit mit Traumatisierten im Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin. Berlin 2002.
- W. Bungard: Zur Validität der Forschung über soziale Deprivation. In: Gruppendynamik – Forschung und Praxis. Heft 3, Juni 1977, S. 170–185.
- A. Engels: Sensorische Deprivation – Isolation gleich Folter oder Isolation gleich Therapie? In: Gruppendynamik – Forschung und Praxis. Heft 3, Juni 1977, S. 163–170.
- J. Gross, L. Svab: Soziale Isolation und Sensorische Deprivation und ihre gerichts-psychologischen Aspekte. Prag 1967.
- Gerhard Koenen: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Köln 2003.
- Komitee gegen Isolationshaft: Todesstrafe auf Raten. Eco-Verlag, Zürich 1976, DNB 890774447.
- L. Richter: Die Geschichte der Folter und Hinrichtung : vom Altertum bis zur Jetztzeit. Wien 2001, ISBN 3-85492-365-1.
- Kurt Oesterle: Stammheim – die Geschichte des Vollzugsbeamten Horst Bubeck. ISBN 3-453-62007-0.
- S. Teuns: Isolation/Sensorische Deprivation – Die programmierte Folter. In: Klaus Eschen u. a.: Folter in der BRD – Zur Situation der Politischen Gefangenen (= Kursbuch. 32). Rotbuch-Verlag, Berlin 1973, OCLC 246216942.
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- www.gerd-koenen.de/pdf/Stammheim_revisited_Kommune_1103.pdf – über Horst Bubecks Buch (PDF-Datei; 23 kB)
- Wo das Böse hockt – Vom Umgang mit gefährlichen Gefangenen. Reporter vom 22. März 2006.
- Shane Bauer: Solitary in Iran Nearly Broke Me. Then I Went Inside America’s Prisons. Mother Jones, November/Dezember 2012.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Gabriel Eikenberg: Alfred Dreyfus (1859-1935). In: Lebendiges Museum Online. Deutsches Historisches Museum, 14. September 2014, abgerufen am 21. Oktober 2022.
- ↑ Stefan Zweig: Schachnovelle. Hrsg.: Renoldner, Klemens. Reclam, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-15-018975-7, S. 167 (reclam.de [abgerufen am 2. Januar 2021]).
- ↑ Erhängt, ertrunken, erschossen – die seltsamen Todesfälle in Belarus. Abgerufen am 11. September 2020.
- ↑ ergänzend hierzu besondere Vollzugsmaßnahmen nach StVollzG.
- ↑ Kai Schlieter: Isolationshaft in Deutschland – Lebendig begraben. die tageszeitung (taz), 24. Februar 2011, abgerufen am 13. März 2011.
- ↑ Der Wortlaut des Terörle Mücadele Kanunu ( vom 23. August 2016 im Internet Archive) (ATG) ist auf den Seiten des Justizministeriums einzusehen; Zugriff am 22. August 2016, PDF 210 kB.