Leipziger Schule – Wikipedia

Als Leipziger Schule bezeichnet man mehrere wissenschaftliche Schulen, die an der Universität Leipzig entstanden sind, zumal in den Fächern Soziologie, Psychologie und Linguistik.

Ob es eine Leipziger Schule der Soziologie gegeben hat, ist stark umstritten. Es kursiert seit 1959 die Rede, es hätte eine solche Schule seit den späten 1920er Jahren gegeben. Im engeren (und meist gebrauchten) Sinn wird als Leipziger Schule der Soziologie der Kreis von Gelehrten bezeichnet, den der Kulturphilosoph und Soziologe Hans Freyer an der Universität Leipzig um sich gebildet hätte. Freyers in der Jugendbewegung geprägte Haltung schloss – für seine Person – eine begrenzte ('bündische') Liberalität gegenüber Abweichlern ein. Mit der damaligen Leipziger Soziologie werden neben Hans Freyer die Wissenschaftler Arnold Gehlen, Gotthard Günther, Gunther Ipsen, Karl Heinz Pfeffer, Helmut Schelsky, Hans Linde und Helmut Haufe verbunden.[1] (s. Literatur zur Soziologie unten).

Wenn von einer soziologischen Schulbildung keine Rede sein konnte, so ist doch auffallend, dass zahlreiche Leipziger Soziologen, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler starke Affinitäten zur empirischen Raumforschung (und nach 1945 zum Teil zur Dortmunder "Realsoziologie") aufwiesen: Hans Linde, Karl Heinz Pfeffer, Walter Hildebrandt, Hans-Jürgen Seraphim, Hans Freyer, Erika Fischer (Soziologin), Friedrich Bülow, Erich Dittrich, Gunther Ipsen, Karl C. Thalheim, Wolfgang Schmerler,[2] Karl Valentin Müller u. a.[3][4]

Auch in der Psychologie spricht man von einer Leipziger Schule. Sie wird in eine „erste Leipziger Schule“ (Wilhelm Wundt mit seiner Völkerpsychologiesiehe auch Wundt-Laboratorium) und in eine „zweite Leipziger Schule“ (Felix Krueger, Friedrich Sander) unterschieden.[5] Die „zweite Leipziger Schule“ wurde stark durch völkisches, antisemitisches und nationalsozialistisches Gedankengut beeinflusst.

Unter Leipziger Schule versteht man in der Indogermanistik auch die als Junggrammatiker bezeichneten Forscher um Karl Brugmann und August Leskien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.[6]

Ebenfalls als „Leipziger Schule“ wurde eine Hauptrichtung der Arabistik und Altertumswissenschaften in der ehemaligen DDR bezeichnet, als deren Hauptvertreter bzw. Vordenker der Professor Lothar Rathmann am Orientalischen Institut der Karl-Marx-Universität galt. Schüler Rathmanns waren z. B. Gerhard Höpp und Gerhard Hoffmann.

Die orientalistischen und islamwissenschaftlichen Fachbereiche der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im naheliegenden Halle (Saale) folgten lange dieser Leipziger Schule.

  • Peter Bernhard: Die Leipziger Schule in Dessau. ln: Olaf Thormann (Hrsg.): Bauhaus Sachsen, Arnoldsche, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-89790-553-5, S. 365–370.
  • Karl-Siegbert Rehberg: Hans Freyer (1887–1960). Arnold Gehlen (1904–1976). Helmut Schelsky (1912–1984). In: Dirk Kaesler (Hrsg.): Klassiker der Soziologie. Band 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu (= Beck'sche Reihe. 1289). 5., überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-42089-4, S. 72–104.
  • Karl-Siegbert Rehberg: Soziologische Denktraditionen. „Schulen“, Kreise und Diskurse in der deutschen Soziologie (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. 1426). Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-518-29026-6.
  • Gerhard Schäfer: Wider die Inszenierung des Vergessens. Hans Freyer und die Soziologie in Leipzig 1925–1945. In: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1990, Leske + Budrich, Opladen 1990, S. 121–175.
  • Jerry Z. Muller: The Other God that Failed: Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton University Press, 1987.
  • E. Bradford Titchener: The Leipsic School of experimental psychology. In: Mind. (N. S.) Bd. 1, Nr. 2, 1892, S. 206–234, JSTOR:2247290.
  • Elfriede Üner: Der Einbruch des Lebens in die Geschichte. Kultur- und Sozialtheorie der „Leipziger Schule“ zwischen 1900 und 1945. In: Hartmut Lehmann, Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Band 1: Fächer – Milieus – Karrieren (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 200). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-35198-4, S. 211–239.

Einzelnachweise

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  1. Hans Linde: Soziologie in Leipzig 1925-1945. In: M. Rainer Lepsius (Hrsg.): Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte. Westdeutscher Verlag, Opladen 1981, S. 102–130.
  2. Zu Schmerlers Rolle zwischen Leipziger Soziologie und Raumplanung siehe: Ariane Leendertz: Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. 7). Wallstein, Göttingen 2008, ISBN 978-3-8353-0269-3, S. 91–98.
  3. Ulrich Heß: Landes- und Raumforschung in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Comparativ 5, 1995, 4, S. 57–69.
  4. Hansjörg Gutberger: Volk, Raum und Sozialstruktur. Sozialstruktur- und Sozialraumforschung im „Dritten Reich“, Münster: LIT ²1999, ISBN 3-8258-2852-2, S. 89 ff.
  5. Wolfram Meischner: Die Leipziger Schulen. In: Helmut E. Lück, Rudolf Miller (Hrsg.): Illustrierte Geschichte der Psychologie. 2. korrigierte Auflage. Psychologie Verlags Union, Weinheim 1999, ISBN 978-3-621-27460-9, S. 101 ff.
  6. Vgl. Harald Wiese: Eine Zeitreise zu den Ursprüngen unserer Sprache. Wie die Indogermanistik unsere Wörter erklärt. Logos-Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-8325-1601-7 (2., durchgesehene und korrigierte Auflage. ebenda 2010).