Soziologie der Kindheit – Wikipedia

Übergang und Spannungsfeld Familie und gesellschaftliche Institutionen. Kind am ersten Schultag.

Die Soziologie der Kindheit (bzw. moderne Kindheitssoziologie, englisch new social childhood studies) ist eine spezielle Soziologie, die einerseits aus subjektzentrierter Perspektive das Agieren von Kindern in der Gesellschaft analysiert und andererseits aus kontextzentrierter Perspektive die Stellung von Kindern im gesellschaftlichen Gefüge.

Bislang existiert noch kein vorbehaltlos taugliches Konzept zur „Soziologie der Kindheit“. Die neuere Forschung beschäftigt sich vermehrt mit dem Konzept des Generationenbegriffs.[1] Die sozialstrukturelle Variante der Soziologie der Kindheit befasst sich mit generationaler Ordnung und adressiert als politische Soziologie die Sozialpolitik, um eine gerechte Verteilung der Ressourcen und Partizipationsgerechtigkeit unter den Generationen zu erreichen.[2]

Das nach Doris Bühler-Niederberger (2011) auf Adultismus basierende Postulat der Durchsetzung der „Ordnungsfähigkeit“ prangert die Disziplinierung der Kindergeneration durch Erwachsene zum Zweck der Normierung (späterer) gesellschaftlicher Ordnungs- und Machtverhältnisse[3][4] („Kindheit als Modus der Reproduktion fundamentaler sozialer Ungleichheiten“) an.[5] Generationale Ordnung wird von der Soziologie der Kindheit insofern (herrschafts-)kritisch verstanden[Anm. 1]; und die Soziologin Susanne Achterberg legt ihre Studie „Das Kind als Objekt des Begehrens“ dahingehend aus, dass das Vorhandensein generationaler Hierarchie auch sexuellen (pädophilen) Missbrauch von Kindern begünstigt.[6][Anm. 2] Hingegen weisen der Sexualpädagoge Uwe Sielert[Anm. 3] sowie die Therapeutin Marie-Luise Conen auf die Negativrisiken von Kindheit im Setting reduzierter Generationsgrenzen (sprich: Generationenhierarchieabbau) hin.[Anm. 4][7]

Die Konzepte der „modernen Kindheitssoziologie“ („new social childhood studies“) koalieren einerseits gut mit neoliberalen Modellen; andererseits nehmen dadurch laut Ulf Preuss-Lausitz tendenziell die psychischen Belastungen von Kindern zu.[8]

Bis in die 1980er Jahre hinein befassten sich Soziologen mit der Kindheit fast ausschließlich im Zusammenhang der Sozialisationsforschung. Erst danach entwickelte sich, ausgehend von skandinavischen und angloamerikanischen Forschungen, eine spezielle Soziologie. Inzwischen liegen zahlreiche Studien zu Ungleichheitsverhältnissen zwischen Erwachsenen und Kindern und ungleichen Lebensbedingungen von Kindern in unterschiedlichen Ländern vor.[Anm. 5] Analysiert werden insbesondere gesellschaftliche Ordnungsprinzipien, Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, angeregt durch die Soziologie sozialer Ungleichheit und Minoritäten[9] (“difference”: class, race, gender,[Anm. 6] generation).[Anm. 7] Bei der Deutschen Gesellschaft für Soziologie besteht seit 1997 eine Sektion „Soziologie der Kindheit“.[10]

  • Jens Qvortrup: Die soziale Dimension von Kindheit. In: Handbuch der Kindheitsforschung (Hrsg. Manfred Markefka, Bernhard Nauck). Luchterhand Verlag, Neuwied 1993, ISBN 3-472-00961-6, S. 109–124.
  • Leena Alanen: Zur Theorie der Kindheit. Die „Kinderfrage“ in den Sozialwissenschaften. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 17, Heft 28, Lahnstein 1994, S. 93–112.
  • Michael-Sebastian Honig: Entwurf einer Theorie der Kindheit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-518-58274-7.
  • Heinz Hengst, Helga Zeiher (Hrsg.): Kindheit soziologisch. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005, ISBN 3-8100-4140-8.
  • Herbert Schweizer: Soziologie der Kindheit. Verletzlicher Eigen-Sinn. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-531-14222-7.
  • Doris Bühler-Niederberger: Soziologie der Kindheit. In: Spezielle Soziologien (Hrsg. Markus Schroer, Georg Kneer). Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-531-15313-1, S. 437–456.

Einzelnachweise

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  1. Heinz Hengst: Kindheit. In: Herbert Willems (Hrsg.): Lehr(er)buch Soziologie. Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge. Band 2, Wiesbaden 2008, S. 567.
  2. Heinz Hengst: Kindheit. In: Herbert Willems (Hrsg.): Lehr(er)buch Soziologie. Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge. Band 2, Wiesbaden 2008, S. 567.
  3. Doris Bühler-Niederberger: Lebensphase Kindheit. Weinheim 2011, S. 69 ff.
  4. Vgl. Claudia Machold: Kinder und Differenz. Eine ethnografische Studie im elementarpädagogischen Kontext. Wiesbaden 2015, S. 73 f.
  5. Doris Bühler-Niederberger, Johanna Mierendorff: Ungleiche Kindheiten – eine kindheitssoziologische Annäherung (PDF; 264 kB). In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung. 2009, Heft 4, S. 449.
  6. Susanne Achterberg: Das Kind als Objekt des Begehrens. Die pädophile Ausbeutung der generationalen Hierarchie. (PDF; 1001 kB). In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation. Jg. 20 (2000), H. 2, S. 167–180.
  7. Marie-Luise Conen: Sexueller Missbrauch aus familiendynamischer Sicht - Arbeitsansätze in der SPFH. (PDF; 483 kB) In: Handbuch Sozialpädagogische Familienhilfe (PDF). Stuttgart 1999, S. 382 ff.
  8. Vgl. Heinz Hengst: Kindheit. In: Herbert Willems (Hrsg.): Lehr(er)buch Soziologie. Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge. Band 2, Wiesbaden 2008, S. 572.
  9. Doris Bühler-Niederberger, Soziologie der Kindheit - Gegenstand und Perspektive. Kurzportrait des Gegenstandes der Sektion Soziologie der Kindheit, Deutsche Gesellschaft für Soziologie. (online), abgerufen am 5. März 2016.
  10. Heinz Hengst, Helga Zeiher (Hrsg.): Kindheit soziologisch. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005, S. 12.
  1. Susanne Achterberg, Forum Kritische Psychologie (2010): Das sexuell kompetente Kind und Sexualität als Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen (PDF; 168 kB), S. 76: „Die sozial konstruierte Ungleichheit zwischen Erwachsenen und Kindern ist in der Kindheitssoziologie mit dem Konzept der generationalen Ordnung gefasst. Dieses wird zurzeit vornehmlich als bipolares, durch Klasse, Ethnie und Geschlecht modifiziertes Herrschaftsverhältnis verstanden.“
  2. Fachportal Pädagogik, pedocs - Detailanzeige: „Mit einer qualitativen Sekundäranalyse wurden zu diesem Zweck Interviewaussagen von pädophilen Männern untersucht. Die Analyse hat gezeigt, dass die sogenannte klassische Pädophilie die bestehende generationale Hierarchie nicht nur manifestiert, sondern darüber hinaus noch verschärft, in dem sie das Kind in äußerst stereotyper Weise als Objekt des Begehrens entwirft.“ (Autorenreferat)
  3. Interview mit Uwe Sielert: „Naiver Umgang mit Pädophilie“: „Der Sexualwissenschaftler Günther Amendt und die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer waren zum Beispiel von Anfang an dagegen, dass Schranken zwischen den Generationen aufgehoben wurden. Ziel führender Pädagogen war es damals, das Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern zu minimieren. […] Aus einem klaren erziehungswissenschaftlichen Bewusstsein heraus habe ich gesehen, dass dabei Generationsgrenzen zwischen Kindern und Jugendlichen überschritten werden.“
  4. „Denn der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen bzw. zu betreuenden Kindern tritt nicht plötzlich auf, sondern entwickelt sich über längere Zeiträume, indem zunehmend die Grenzen zwischen Kind/Jugendlichen und Mitarbeitern verwischt werden.“ Conen (1997) zitiert nach: Deutsches Jugendinstitut (2012), Abschlussbericht. Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen. (PDF; 2,6 MB), S. 167. Ferner wird darin (S. 169 f) angegeben: „In den Fokusgruppendiskussionen wird auf Konstellationen verwiesen, in denen sich Professionelle zu wenig abgrenzen und Kinder emotional ausbeuten […], also sich riskante Vermischungen von Privatheit und Beruf und die Verwischung von Generationsgrenzen entwickeln.“
  5. So etwa durch Enid Schildkrout (1990) und Olga Nieuwenhuys (1994), die sich insbesondere auf Kindheit im Kontext von Kinderarbeit im Rahmen von Familienökonomien in Entwicklungsländern beziehen. Vgl. Anne Wihstutz: Verantwortung und Anerkennung. Qualitative Studie zur Bedeutung von Arbeit für Kinder. Berlin 2009, S. 89 ff.
  6. Gisela Notz: Zur feministischen Kritik des marxistischen Arbeitsbegriffs. In: Marx für SozialwissenschaftlerInnen. Eine Einführung. Wiesbaden 2014, S. 169: „Aus den USA kamen Theorieansätze, die versuchten, andere Unterdrückungsformen (Sexismus und Rassismus) mit dem Klassenkampf zu verknüpfen (vgl. Davis 1982) und die Formen der Diskriminierung gleichberechtigt nebeneinander zu stellen (class, race and gender).“
  7. Doris Bühler-Niederberger, Johanna Mierendorff: Ungleiche Kindheiten – eine kindheitssoziologische Annäherung (PDF; 264 kB). In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung. 2009, Heft 4, S. 450: „Andere zentrale Differenzaspekte wie [soziale] Klasse, Geschlecht und Ethnie sind aus einer kindheitssoziologischen Perspektive immer als über diese generationalen Kategorien vermittelt zu begreifen.“